Oberbürgermeister von
Villingen-Schwenningen

Volkstrauertag

17.11.2019
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#volkstrauertag
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
einen Wettkampf kann man gewinnen – einen Krieg nicht: Er hinterlässt nur Verlierer. Trotzdem ist er einfach nicht aus der Welt zu schaffen, begleitet die Menschheit seit Ihrer Entstehung, tobt auch jetzt, während Sie hier diese Zeilen lesen, auf verschiedenen Flecken dieser Erde.
 
Er zerstört Land und Leben, zerstört nach und nach diese eine Erde, die wir alle miteinander teilen. Und genau hier scheint das Problem zu liegen: im Teilen. Denn oft teilen die Menschen nicht wie Brüder, sondern benehmen sich stattdessen wie verzogene Kinder, die immer das größte Kuchenstück verlangen, nie etwas abgeben und immer Recht haben wollen.
 
Aber es gibt Hoffnung – denn Gott sei Dank ist auch die menschliche Vernunft offenbar niemals ganz klein zu kriegen: Immer wieder blitzt sie auf, völlig verdrängen lässt sie sich nicht, selbst in den unmenschlichsten Zeiten nicht. ‚Ein Anflug von Vernunft‘ heißt daher auch eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg, die sich so oder ähnlich wirklich zugetragen haben soll. Gleich zu Beginn, 1914, soll es gewesen sein, am ersten Heiligen Abend im Krieg:
 
Die deutschen Soldaten haben damals in den Schützengräben der belgischen Stadt Ypern gekauert, eng beieinander, um sich warm zu halten. Von der nahen Nordsee her wehte ein eisiger Wind. Die jungen Männer hatten gehofft, dass der Krieg an Weihnachten vorbei wäre und sie wieder zu Hause säßen bei Ihren Familien, bei gutem Essen und Kerzenschein. Aber die Realität sah anders aus: überall Tote und Blut, Stacheldraht und Schlamm.
 
Und gegenüber, gerade mal 25 Meter entfernt, lag der Feind. Es waren die Engländer, die dort in ihren Gräben gehockt haben, und vermutlich haben sie das Gleiche gedacht und gefühlt wie die Deutschen auf der anderen Seite.
 
Und dann ist es passiert:
Mitten hinein in die unheimliche Stille, die zwischen zwei Gefechten herrscht, erklang plötzlich
 
‚Stille Nacht, heilige Nacht‘.
Die Deutschen hatten angefangen zu singen.
 
Anschließend haben sie zu den Engländern hinübergerufen: ‚Komm, Tommy, jetzt bist du dran!‘
 
Und die britischen Soldaten haben geantwortet:
 
Sie sangen ‚The first Nowell‘ und gleich hinterher ‚O Come All Ye Faithful‘.
 
Das entspricht in England unserem Lied!
 
Dann rief ein Deutscher: ‚Komm, Tommy, steh auf!!!‘
 
Aber da wurde es wieder ganz still, alle waren misstrauisch: Was führt der Feind im Schilde? Lauern Scharfschützen? Ist das ein Trick?
 
Einige Minuten lang hat sich keiner mehr gerührt, doch dann plötzlich sahen die Briten aus dem Dunkel einen Deutschen auf sich zukommen: Er trug kein Gewehr, und er hatte wieder zu singen begonnen.
 
Das war der Moment, in dem in dieser eisigen Kriegsweihnacht das Eis gebrochen ist zwischen den feindlichen Fronten. Langsam sind die Soldaten aus ihren Gräben gekrochen, näher und noch näher – bis plötzlich aller Argwohn von ihnen abgefallen ist. Sie haben angefangen, miteinander zu reden, Scherze zu machen und zu lachen.
 
Schließlich ist einer auf die Idee gekommen Fußball zu spielen: Sachsen gegen Angelsachsen, quer über die Frontlinie. Schnell waren Jacken und Schals als Pfosten drapiert, und man hat eine Dose zum Kicken gefunden. Etwas später brachte einer sogar – man weiß nicht, woher – einen richtigen Ball. Es heißt die Sachsen haben 3:2 gewonnen.
Dieser wunderbare Waffenstillstand hat sich damals auf zwei Meilen entlang der Front ausgeweitet und bis Neujahr angedauert.
 
Dann haben die Oberkommandos davon erfahren: Sie waren wütend, und jegliche Verbrüderungen wurden strikt untersagt. Also haben die Soldaten wieder begonnen, einander tot zu schießen, und der Krieg nahm auch an der Front in Ypern seinen gewohnten grausamen Lauf.
 
Als zwei britische Offiziere im folgenden Jahr versucht haben, den weihnachtlichen Frieden zu wiederholen, wurden sie vor ein Kriegsgericht gestellt.
 
40 Jahre später, meine Damen und Herren, also 1954, wurde diese Geschichte in der Weihnachtsausgabe der ‚London Times‘ veröffentlicht; ein Mann namens Alastair Stevens hatte sie aufgeschrieben.
 
1954 – da hatten alle bereits den zweiten Weltkrieg hinter sich. Den Krieg, der noch grausamer war als der Erste und der zugleich bewiesen hat, dass niemand aus der Vergangenheit gelernt hatte.
Und heute, 2019, sind wir es, die zu fragen haben:
Haben wir etwas gelernt? Sind wir zur Vernunft gekommen?
 
Einerseits ja: In Deutschland herrscht seit über 70 Jahren Frieden. Und die Europäische Union zeigt, dass eine Verständigung zwischen den Völkern möglich ist – friedlich möglich ist, auch wenn man nicht immer dieselbe Meinung hat. Die EU vertritt gemeinsame Interessen – nicht die von einzelnen Ländern. Man sucht nach Konsens oder wenigstens nach Kompromissen.
 
Andererseits aber haben wir aus den zwei Weltkriegen noch nicht genug gelernt: Denn immer noch gibt es Krieg, Gewalt und Terror auf der Welt. Und wir schauen zu, nehmen hin, vergessen wieder. Oder wissen wir etwa genau, wie viele blutige Bürgerkriege zurzeit in Afrika wüten?
 
‚Aber was sollen wir denn tun?‘ Fragen Sie jetzt womöglich, meine Damen und Herren, und ich sage Ihnen ganz ehrlich: ‚Ich weiß es nicht.‘
 
Niemand von uns ist in der Lage, all das Elend auf der Welt zu lindern. Was wir jedoch tun können, ist helfen, wo unsere Hilfe gebraucht wird – und wo sie auch ankommt. Das ist oft gleich nebenan. Bei uns herrscht zwar kein Krieg, aber Hass und Intoleranz gibt es auch in Deutschland noch. Wenn wenigstens wir hier in Villingen-Schwenningen friedlich miteinander umgehen – mit dem Nachbarn, dem Kollegen, dem Freund und auch den Fremden – dann ist schon viel erreicht.
 
Meine Damen und Herren, Krieg ist doppelt gefährlich, denn er ist ansteckend – wir sprechen deshalb von Krisenherden wie von Krankheitsherden. Doch auch Frieden kann anstecken; das zeigt zum Beispiel die Geschichte vom Weihnachts-Fußball an der Front.
 
‚Seien wir also ansteckend‘: Verbreiten wir Frieden!
 
Denn wie sagte der Philosoph Karl Jaspers? ‚
 
Die Frage des Friedens ist keine Frage an die Welt, sondern eine Frage an jeden selbst!‘
 
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