Oberbürgermeister von
Villingen-Schwenningen

Offener Brief zur aktuellen Situation der Innenstädte und des Handels

12.02.2021
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Ich habe in dieser Woche mit einem offenem Brief zur aktuellen Situation der Innenstädte und des Handels, zur Überbrückungshilfe und zur Durchführung der Verkaufsoffenen Sonntage 2021 an Herrn Minister Altmaier und Ministerin Dr. Hoffmeister-Kraut gewandt:
„Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Hoffmeister-Kraut, seit Jahren sind unsere Innenstädte, geprägt durch Wandel und Digitalisierung unter großem Veränderungsdruck – die einzelnen Akteure wie Handel, Gastronomie, deren Verbände, aber auch die Städte an sich reagieren darauf stetig mit neuen, innovativen Konzepten und Unter-stützungsangeboten, um unsere Innenstädte zukunftsfähig aufzustellen.

Durch den zweiten Lockdown seit dem 1.11.2020 bzw. 16.12.2020 hat sich die Lage der Einzelhändler und der Gastronomie – Stützpfeiler für bevölkerte, lebendige und attraktive Fußgängerzonen – von prekär zu existenzbedrohend verschlechtert. Die in zuvor in Gang gesetzten Veränderungsmaßnahmen können aktuell u.a. aus mangelnder Planungssicherheit, mangelnden finanziellen Mitteln und der damit einhergehenden Existenzangst vieler kaum weiter vorangetrieben werden – Die Zukunft des Kulturguts ‚Innenstadt‘ steht ebenso auf dem Spiel wie die Gesamtattraktivität unsere Städte.

Laut einer aktuellen vom Demoskopischen Institut Allensbach durchgeführten Umfrage befürchten 40% aller Befragten, dass die Innenstädte im Lauf der Corona-Krise dauerhaft an Attraktivität verlieren werden. Damit wird eine Negativ-Spirale in Gang gesetzt, denn wer möchte schon in Innenstädten bummeln, in denen jedes zweite Geschäft eine leere Auslage zeigt oder gleich komplett verbarrikadiert ist?

Auch der oft als Rettungsanker hochgelobte Online-Handel ist für viele kleinere Händler keine wirkliche Option. Die inhabergeführten Geschäfte sehen hier für sich nur eingeschränkte Umsatzchancen, der Online-Handel ist längst an die großen Player wie Amazon, Zalando und andere aufgeteilt – die durch die aktuellen Einschränkungen quasi auf Kosten anderer weiter gefördert werden.
Die Alleinstellungsmerkmale und damit die Wettbewerbsfähigkeit speziell des stationären Handels wurde diesem genommen. Die Kunden möchten individuelle Beratung vor Ort, wollen an- und ausprobieren ohne dem Hin- und Herversand von unpassenden Artikeln. Und nicht zuletzt schätzen viele Kunden die persönliche Ansprache des Verkaufsteams. Die Ein-zelhändler im Allgemeinen und die Textilhäuser im Besonderen in unseren Städten fühlen sich auf ganzer Linie benachteiligt. Ihre gut ausgearbeiteten und funktionierenden Hygienekonzepte in den Ladenlokalen werden nicht anerkannt.

Am Beispiel der ZINSER-Modehäuser in den Städten Villingen-Schwenningen, Herrenberg, Lahr, Offenburg, Reutlingen, Singen und Tübingen möchten ich Ihnen die derzeitige prekäre Situation, eines ursprünglich kerngesunden Familienunternehmens an einigen Zahlenbeispielen verdeutlichen:
Der Umsatzverlust im Jahr 2020 betrug ca. 35 Mio Euro bei einem Jahresumsatz 2019 von 87 Mio. Euro.
Der Umsatzverlust aufgrund des Lockdowns vom 16.12. bis 31.01. wird rund 11,1 Mio. Euro betragen.
Der Wert des Lagerbestandes der Herbst-/Winterware per 16.12. betrug 8 Mio. Euro EK. Dieser ist ab 1.03.2021 nicht mehr verkäuflich.
Die Kollektion für Frühjahr/Sommer 2021 im Wert von 9 Mio. Euro EK ist bereits gekauft, Storno oder Rücknahmen sind nicht möglich.
Bezahlung dieser Ware erfolgt bei normalem Geschäftsverlauf aus dem Cashflow des Weihnachtsgeschäfts.
Der offene Umgang mit sonst vertraulichen Unternehmenskennzahlen unterstreicht die Dringlichkeit der Situation und unserer Forderungen.
Die Überbrückungshilfen I und II konnten aufgrund grundlegender oder zu hoher Eingangs-hürden oft nicht beansprucht werden.
Daher möchten ich ausdrücklich die Forderung nach Änderungen der Überbrückungshilfe III unterstützen, unter anderem:
eine klare Perspektive, wann der Handel wieder öffnen kann, natürlich unter Einhal-tung der Schutzmaßnahmen sowie eine angemessene Entschädigung der Betriebe.
Aufhebung der Begrenzung des monatlichen Zuschussbetrages pro Unternehmen (!) von 500.000 Euro (vgl. Beispiel Modehaus Zinser)
Abschlagszahlungen von bis zu 500.000 Euro mit sofortiger Auszahlmöglichkeit
Deckungsgleichheit von Schließungszeitraum und Entschädigungszeitraum
Berücksichtigung der Abschreibungen auf das Warenlager (Saisonware, verderbliche Ware) bei der Fixkostenberechnung
Gleichstellung der Mietzahlungen innerhalb verbundener Unternehmen bei Anrechnung als Fixkosten. Die Deckelung sollte bei einer marktüblichen Miete liegen (Textilbranche 5-8% des Bruttoumsatzes)
Die Obergrenzen nach EU-Beihilferecht sollten erhöht werden

Außerdem unterstützen ich den Ansatz der Industrie und Handelskammer zur Corona-Strategie und den Umgang mit Saisonware
Ein weiterer Punkt, der kurzfristig erneut diskutiert werden muss betrifft die Verkaufsoffenen Sonntage im Jahr 2021.
Gemäß § 8 des Gesetzes über die Ladenöffnung in Baden-Württemberg dürfen Gemeinden an bis zu drei Sonn- oder Feiertagen aus Anlass von Märkten, Messen, örtlichen Festen oder ähnlichen Veranstaltungen verkaufsoffene Sonntage genehmigen. Seit dem Jahr 2015 haben sich die rechtlichen Voraussetzungen verschärft: Nur Veranstaltungen, die selbst einen beträchtlichen Besucherstrom anziehen, können Anlass für eine Ladenöffnung sein. Diese Voraussetzungen lassen sich coronabedingt auf absehbare Zeit nicht erfüllen.

Viele Städte und Gemeinden haben ihre Termine für dieses Jahr bereits fest geplant, ihnen sind aber aufgrund der momentan nicht zulässigen Veranstaltungen die Hände gebunden. Um dem Handel den Rücken zu stärken, bitten wir die Landesregierung, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeber Verbände, als auch die Kirchen um eine kurzfristige, vorübergehende Genehmigung von Verkaufsoffenen Sonntagen ohne Anlassbezug.

Ich bitten Sie als unsere gewählten politischen Vertreter eindringlich, die berechtigten Interessen unserer Einzelhändler und Gastronomen, zum Wohle aller und im Sinne einer Gleichbehandlung stärker zu berücksichtigen. Die Betriebe und ihre Mitarbeiter benötigen dringend eine verlässliche Perspektive, konkrete Maßnahmen die wirken und auch ankommen sowie positive Signale wie und wann es für sie weitergehen kann.

Wir alle können nicht wollen, dass es auf lokaler, regionaler oder landesweiter Ebene zu weiteren coronabedingte Insolvenzen wie bei Modehaus Adler, Reisebüro Bühler oder Sternenbäck kommt.“